Meine Beobachtungen am letzten Wochenende und ein aktueller Artikel aus der Fachzeitschrift “Leistungssport” regten mich zum heutigen Beitrag an:
Am letzten Sonntag war es eine Wonne die spannenden Männer- und Frauenrennen beim Berlin-Marathon zu verfolgen. Das war Marathon-Drama in Vollendung. Mit Siegern und Verlierern nach läuferischen Duellen gegen Mitstreiter und sich selbst.
Im Männerfeld gab es vor dem Lauf und medienseitig eigentlich nur einen Protagonisten: Haile Gebrselassie.
Grundsätzlich wurde von ihm nichts weiter erwartet, als eine Leistung nahe oder gar unter seiner ebenso in Berlin aufgestellten Weltbestzeit abzurufen. Und das mit fortgeschrittenem Alter (38) und Vorleistungen, die nicht zwangsläufig ein solche Leistungsfähigkeit schließen lassen.
Dass er bei Kilometer 27 erstmalig aussteigen musste, stimmte mich nachdenklich. Ungeachtet möglicher körperlicher Beschwerden: Hat er sich, trotz seiner Erfahrung, durch die äußeren Erwartungen (und dem Verhalten seines Hauptkonkurrenten Patrick Makau) zu einem zu hohen Anfangstempo verleiten lassen? Zumal die Olympiaqualifikation noch nicht gesichert, die nationale Konkurrenz zahlreich vorhanden und die Anzahl der Qualifikationschancen limitiert ist. Seine jüngsten Äußerungen stützen den Verdacht.
Dazu kam mir unweigerlich die Situation des Eurosport Co-Kommentators und zugleich deutschen Marathonhoffnung Jan Fitschen in den Sinn: Nach dem mäßigen Marathon-Debüt in Düsseldorf (was die Endzeiterwartung betrifft, nicht die enorm bewundernswerte kämpferische Leistung), steht nach einer Phase der chronischen Müdigkeit und eingeleiteten Formaufbau nun der Frankfurt Marathon an.
Dass er dort die Olympianorm von 2 Stunden 12 Minuten unterbieten kann, halte ich für unwahrscheinlich, in Anbetracht der veröffentlichten Trainingsergebnisse. Doch auch in seinem Fall wird ein relevanter Teil der Presse eher Gegenteiliges erwarten. Der Logik folgend: “Er war schließlich 10.000 m Europameister. Das muss er doch irgendwie hinkriegen”.
Und dann war da noch das Marathon-Comeback, nach 18-monatiger Babypause, von Paula Radcliffe. Wie Gebreselassie bei den Männern, hält sie die Weltbestzeit der Frauen inne. Zwar rechnete niemand mit einer solchen Fabelzeit in Berlin, und doch wurde von Ihr erwartet, vorne mitzumischen. Das ist ihr aus meiner Sicht auch eindrucksvoll gelungen.
Diese 3 Beispiele zeigen, dass es im Leistungssport von nöten ist, mit Erwartungen umgehen zu können. Sportpsychologe und Managementberater Ulrich Kuhl thematisiert das, an eingangs genannter Stelle, am Beispiel der Frauen Fußball-Nationalmannschaft im Zusammenhang mit der Weltmeisterschaft 2011. Zudem gibt es zahlreiche Beispiele für den Umgang mit Drucksituationen im Amateursport.
In welchem Ausmaß ein Athlet eine Leistungssituation als “Druck” im Sinne einer Bedrohung, oder im positiven Sinne als Herausforderung empfindet, wird von 3 Bewertungsfaktoren bestimmt – so im Modell nach Kuhl:
- Wert des Ziels
- subjektive Erfolgswahrscheinlichkeit
- resultierende Konsequenzen bei Erreichen / Verfehlen des Ziels
Die Gesamteinschätzung kann sich im Rennverlauf auch ändern. Bspw. wenn ein sicher geglaubter Sieg und durch plötzlich auftretende Krämpfe den Triumph oder das Erreichen einer Qualfikationszeit verhindert.
Lösungsansätze liegen in der Erhöhung der Wahrscheinlichkeit auf Erfolg und im Umgang mit positiven wie negativen Konsequenzen.
Maßnahmen zur Steigerung der subjektiven Erfolgswahrscheinlichkeit:
- Trainingsanforderungen konsequent – aber nicht zwingend bedingungslos – umsetzen (Soll/Ist)
- Bewegungsanforderungen hochgradig automatisieren und ökonomisieren (letzteres besonders beim Laufen in der Zone der Wettkampfgeschwindigkeit)
- Wettkämpfe simulieren (z.B. Trainingswettkämpfe, Testwettkämpfe) und auch schon hier positive und negative Konsequenzen erfahren und verantworten (maßvolle Belohnung bei Erreichen, Bestrafung bei Scheitern im Rahmen der Trainingsgruppe), die unterhalb der realen Konsequenzen liegen
- “Plan B” bereithalten, wenn Leistungsausprägung am Wettkampftag nicht ausreicht. Durch Erreichen eines abgesprochenen und allseitig akzeptierten Alternativziels kann die Situation dann den herausfordernden Charakter bewahren
- materielle Abhängigkeit mittelfristig reduzieren (z.B. Duale Karriere mit Leistungssport und Schule/Studium anstreben (Plan B), angemessene und faire leistungsunabhängige Anteile in Gagen und Sponsorenverträgen aushandeln; sparsame und nicht auf Pump gestaltete Lebensführung, u.ä.)
- sich vor dem Wettkampf weniger verbal “aus dem Fenster lehnen”: Statt zu sagen “Ich werde die Olympianorm knacken” besser formulieren “Ich werde meine beste Leistung abrufen und freue mich, wenn es zur Olympiateilnahme reicht. Das ist mein Ziel” etc.
- Sponsoren und Funktionäre sollten hohe Erwartungen nicht öffentlich formulieren
- Leistungssituation bestmöglich simulieren (s.o.)
Das Spektrum der Möglichkeiten ist groß und individuell gestaltbar. Auch leistungsambitionierte Amateurläufer müssen oft eigene und Fremderwartungen erfüllen. Deshalb ist es sinnvoll, und eine leistungsrelevante Fähigkeit, die psychologischen Zusammenhänge erkennen zu können. Wenn das gelingt, kann eigentlich ein jeder Athlet, auch in Zusammenarbeit mit dem Trainer, die Rahmenbedingungen so anpassen, dass die Leistungsziele dauerhaft als Herausforderung “angelaufen” werden. Das Akzeptieren des gelegentlichen Scheiterns inbegriffen.